Sonntag, November 30, 2008

München - Venedig (XIII): Kraft atmen

Wäre Schnee auf den Wiesen unterhalb des Fedaiasees gelegen, hätte man federleicht auf Wintersportgerät ins Tal gleiten können, um dann geduldig in der Schlange vor einem der zahlreichen Lifte oder einer Seilbahnstation zu warten. Man hätte sich nach oben transportieren lassen, wäre anschließend erneut der Schwerkraft talwärts gefolgt usw.

Diese Routine hätte man in Variationen solange wiederholt, bis am Strand einer angetauten Insel der Vernunft auf dem frostigen Gedankenglobus die Frage angeschwemmt worden wäre, worin eigentlich das Ziel des Vorgangs liegt. Dann wäre man in eine der vorsätzlich verkitschten Après-Skihütten gestürzt, um sich dem Enzian zu ergeben oder andere Geister zu beschwören.


Als Metapher für das Leben im umfassenden Sinn trifft Skifahren nur bedingt zu: Zwar gleitet man im Sog der Schwerkraft mancher Ereignisse rasant abwärts, und einige Talfahrten sind mit schweren Stürzen verbunden, aber es erfordert Anstrengung und Ausdauer, sich aus den Tiefen des Lebens zurück in die Höhen zu ziehen. Komfortable Transportmittel stehen dabei selten zur Verfügung.


Im August lag auf den Wiesen unterhalb des Fedaiasees kein Schnee. Die Masten der Lifte ragten aus der Morgenlandschaft wie Nadeln, die ein bösartiger Riese in die Erdkruste gestochen hatte. Aber die Murmeltiere machten einen zufriedenen Eindruck, sie schienen den Wintersport ebenso wenig zu vermissen wie ich.



Auf dem Weg nach Alleghe kommt man durch Dörfer mit urzeitlich klingenden Namen wie Soraru und Sottoguda. In jener Gegend Südtirols wird noch Ladinisch gesprochen, ein überliefertes Vulgärlatein, das mit rund 30.000 Muttersprachlern zu den Idiomen mit der geringsten Verbreitung in Europa gehört. Daher zählen die Ladiner innerhalb der EU zu den anerkannten sprachlichen Minderheiten. Zusätzlich zeichnet sich die Gegend durch prächtige Holzgebäude aus.


Bereits aus weiter Ferne gab sich die Civetta als eine der mächtigsten Bergformationen der Dolomiten zu erkennen. Ich wanderte am Ufer des Alleghe-Sees entlang und war vom Anblick des Berges kolossal beeindruckt, so dass ich in Masaré zunächst ein Wirtshaus aufsuchte und sechs Käsebrote sowie dieselbe Anzahl koffeinhaltiger Kaltgetränke bestellte. Nach dem Imbiss begann ich den steilen Aufstieg.



Gehen erfordert eine besondere Form der Ausdauer. Auch ein geübter Langstreckenläufer muss sich an die unterschiedliche Belastung beim Gehen über täglich lange Strecken und viele Stunden gewöhnen. In flachem Gelände erscheint es mir anstrengender, 30 Kilometer in sechs Stunden gehend zurückzulegen, als dieselbe Strecke in der halben Zeit zu laufen.


Während des teilweise drahtseilversicherten Aufstiegs von Masaré zur Nordwestwand der Civetta war an Laufen nicht zu denken. Der Weg war nicht weit, aber zwischen dem Dorf im Tal und dem Col Rean lagen 1300 Höhenmeter. Als ich am Ende des Tages in die Tiefe blickte, erschien der Alleghe-See wie das Requisit einer Modelleisenbahn-Landschaft.



Ich atmete keine Luft, sondern Kraft, während ich meinen Blick über die Marmolada wandern ließ und mir den Weg vor Augen führte, den ich tagelang gewandert war.


(...)

Sonntag, November 16, 2008

München - Venedig (XII): Unter die Vernunftoberfläche

Menschen sollten nicht auf Berge steigen. Dafür gibt es vernünftige Gründe. Es ist gefährlich. Man kann sich verletzen oder zu Tode stürzen. Das Wetter ist unberechenbar. Man wird sich der menschlichen Winzigkeit bewusst. Es ist anstrengend. Man muss sich auf unerwartete Situationen einrichten. Und außer Fernsicht, Kargheit und Einsamkeit gibt es dort oben wenig zu erwarten.

Aber dieselben Gründe sprechen auch für das Bergsteigen, nur liegen sie dann nicht an der verspiegelten Oberfläche der Vernunft. Stärke erwächst nicht aus der Umgehung von Herausforderungen, sondern aus der Suche nach Erfahrungen, der Überwindung von Gefahren und der Bewältigung von Ängsten.

Der Mensch steigt auf Berge, weil er das Gefühl auf den Gipfeln oder den Gipfel von Gefühlen erfahren will. Man kann viel aus Büchern über Wiesen lernen, aber man lernt eine Wiese erst kennen, wenn man darüber geht oder darauf liegt, das Gras spürt und riecht. Ebenso verhält es sich mit dem Erleben der Berge. Beschreibungen genügen dem Wunsch nach Erfahrung nicht, der Mensch will mit allen Sinnen erleben. Und wenn eine Erfahrung Glücksmomente oder Erfolgserlebnisse vermittelt, will sie wiederholt werden - auch mit dem Risiko, dass sich das Ergebnis ins Gegenteil verwandelt.

Nachdem man sich den Besitz der Erfahrung angeeignet hat und auf dem Gipfel steht, möchte man in die Welt dort unten schreien: "Jetzt gehörst du mir!" (Tatsächlich verhält es sich umgekehrt.)



Der Morgen des zehnten Tages war klar wie das Eiswasser eines Gletscherbachs. Ein weißer Mond leuchtete am Himmel, als wollte er mit der Sonne konkurrieren.

Nadeln aus gefrorener Luft stachen in meine Lunge. Die Kühle vertrieb nächtliche Schlafreste und formte Tagtraumbilder, in der Ferne zeichneten sich Bergsilhouetten wie Scherenschnitte ab.



Ein Teil des Weges zum Piz Boè trug die Nummer 666. Dieser Gipfel sollte der höchste auf dem Traumpfad nach Venedig sein. Der Teufel ist mir nicht begegnet, vielleicht gefiel ihm das Wetter nicht.



Als sich der Berg in seiner gespenstischen Größe vor mir auftürmte, hielt ich eine Begegnung mit Trikot-Träger 666 nicht für ausgeschlossen.



Aber es kam völlig anders. Plötzlich schienen Menschen aus verschiedenen Richtungen zu strömen, und alle bewegten sich in Richtung Gipfel, wo sich das Gewusel verdichtete. Oben hatte man auf 3.150 Metern eine bewirtschaftete Hütte errichtet, und davor drängten sich lärmende Massen im Wettbewerb um ein Stück Strudel oder Pommes. Man fand kaum einen Stehplatz, offenbar wollte ganz Italien am 18.8.2008 den Piz Boè besteigen. Eigentlich kein Wunder, drei Tage nach Maria Himmelfahrt. Wohin sollte der gläubige Italiener sonst in diesen Tagen streben, wenn nicht in Himmelsnähe? Dennoch hat mich der Ansturm überwältigt. Ich war derart verblüfft, dass ich sogar versäumte, den Trubel fotografisch festzuhalten. Rasch verließ ich den Gipfel in Richtung Süden.

Der Abstieg war sehr gut mit Drahtseilen versichert. An einigen Stellen bildeten sich Staus, weil man die aufwärts Krabbelnden vorbei lassen musste. Auf jener Route ist der Piz Boè leicht zu erklimmen, zumal sich viele Gipfelstürmer mit der Seilbahn zur Pordoijochhütte gondeln lassen. Ich wählte den Weg über das Kar nach unten.

Vom Passo Pordoi führte der wunderschön gelegene Bindelweg gegenüber des Marmolada-Massivs zum Fedaiasee, wo ich die folgende Nacht verbrachte, ...



... in der sich der Mond den Himmel zurückholte.





















(...)

Sonntag, November 09, 2008

München - Venedig (XI): Gottes Götter?

Vor rund 17 Jahren hatte der Saxophonist und Komponist Wolfgang Puschnig auf dem Jazzfestival in Moers die Amstettner Musikanten dabei, eine krachlederne Bierzeltkapelle. Puschnig sagte damals sinngemäß, wenn schon alle ständig auf der Suche nach irgendwelchen Roots seien, dann wäre es an der Zeit, sich mit den eigenen Roots zu beschäftigen. Der Ankündigung folgte eine astreine Fusion zwischen alpenländischer Tradition und zeitgenössischem Jazz mit freien Enflüssen. Jenes Konzert eröffnete mir eine Welt, die vor der Haustür lag.

Leider wird überlieferte Volksmusik häufig mit volkstümlicher Berieselung verwechselt, was in erster Linie entsprechenden Fernsehformaten zu verdanken ist. Dem nach Originalität strebenden Künstler ist es hingegen erlaubt, die Früchte für sein Kompottpourri in jedem Klanggarten zu pflücken. In einer Zeit, in der alles mit allem fusioniert werden darf, wird es aufgrund der globalisierten Verschmelzung der Welten und trotz einhergehender medialer Vielfalt schwieriger, Wurzeln auszugraben. Zudem sind Reinformen nicht populär, weil inhaltlich unverzerrt und nicht dem Zeitgeist angepasst. Ethno gilt als schick, solange die Klänge in gegenwärtige Strömungen fließen und in modernen Verpackungen stecken.

Wie ein überlieferter Ländler oder eine lupenreine Polka rocken, erfährt man abends auf der Kreuzwiesenhütte, wenn einer der beiden Söhne des Hauses in die Akkordeonknöpfe greift. Ich erlebte einen begabten jungen Musiker, der traditionelle Arrangements mit Perfektion und Lässigkeit vortrug.

Am nächsten Morgen brach ich auf, als sich die Sonne noch hinter den Bergen verbarg. Auf der Landschaft lag Nebel wie grauer Brei. Zu welchem Zweck der Bagger rund 2100 Meter über dem Meeresspiegel auf jener Wiese stand und wie er dorthin kam, blieb ebenso undurchsichtig wie der Nebel. Spuren, sollte es jemals welche gegeben haben, waren verwischt.


Auf Höhe des Baggers trottete mir eine Kuh entgegen. Sie zeigte enormes Interesse an meiner Regenjacke und versuchte, das Kleidungsstück zu fressen. Dieses Verhalten war unerhört, zumal meine Jacke weder die Farbe noch den Geschmack einer artgerechten Milchkuhmahlzeit besaß. Ich drückte das Rindvieh zur Seite und bog zum Jakobsstöckl ab.


Im Nebel erscheint manches klarer, auch die Bedeutung einer Hypothese, die der Mensch auf den Namen Gott getauft hat. Jener Herr Gott glaubt womöglich im Traum nicht daran, dass es Menschen gibt, und wir kennen Gründe, gleichermaßen an seiner Existenz zu zweifeln. Sollte es einen Weltenschöpfer geben, könnte er nach durchzechter achter Nacht verkatert in einem hinteren Winkel seines Ateliers sitzen und sich den Rauschebart raufen, nachdem ihm klar geworden war, was er im Rausch angerichtet hatte.

Aber vielleicht ist der Mensch sogar der Gott Gottes, und Gott verehrt die Menschen als seine Götter? Auch darüber lassen sich keine Informationen finden - nur erfinden, denn selbst die vom Menschen geschaffenen Götter hüllen sich in Schweigen, was ihre innersten Überzeugungen angeht.

Ebenso viele Argumente wie für den Zweifel gibt es für den Glauben an Gott. Die nicht nachweisbare Instanz erleichtert das irdische Elend und bringt Licht in die Tiefen menschlicher Abgründe. Religionen liefern Erklärungen für Unerklärbares, dienen als Projektionsfläche für menschliche Verantwortung, bieten Trost in scheinbaren Ausweglosigkeiten oder Einsamkeiten und sind Adressaten für das menschliche Bedürfnis, sich zu bedanken. Einer der wichtigsten Aspekte göttlicher Macht besteht darin, dass sie nicht nachweisbar bleiben muss und sich dennoch im Handeln des überzeugten Gläubigen äußert. Ein Gottesbeweis würde den Tod Gottes bedeuten.

Während ich über Gott und die Welt sinnierte, kam mir eine Kuh entgegen. Sie wich nicht aus, sondern steuerte direkt auf mich zu und biss in meine Jacke. Wenige Meter entfernt stand der Nebelbagger. Ich war im Kreis gelaufen.

Mein Kompass wies mir den Weg in Richtung Süden. Ich ignorierte jede Markierung und jedes Schild, stur orientierte ich mich an der Nadel, die sich am irdischen Magnetismus ausrichtete. Diese Entscheidung führte mich wenige Stunden später zum Peitlerkofel.


Nachdem ich die harmlose Peitlerscharte bezwungen und eine Rast an der Schlüterhütte eingelegt hatte, machte ich mich auf den Weg zur Roascharte. Aus der Ferne schien der Bergkamm unbezwingbar. Aber viele Probleme verlieren ihre abschreckende Wirkung, wenn man sich ihnen nähert, manche Lösungen ergeben sich im Tun.


Weil sich der Himmel zuzog und schmutzige Wolkenfetzen vom Wind über die Gipfel getrieben wurden, entschied ich mich, nicht über die Forcella Nivea zu gehen, sondern auf unter 2500 Meter abzusteigen und unterhalb der Forcella Forces de Sielles zur Puez Alpe zu klettern.

Blick aus südlicher Richtung auf die Roascharte

Der Weg in die Abenddämmerung führte an Bildern vorbei, die sich der schriftlichen Beschreibung entziehen. In seltenen Momenten beherrscht eine Fotografie die Sprache besser als das Wort.


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