Sonntag, Mai 10, 2009

Zwischenfrage

Ist es möglich, dass man die Geborgenheit vertrauter Gedankengehäuse verlässt, ohne am Anfang eines Satzes, dem von Narzissenduft umwölkte Unschuldsheucheleien einer taufrischen Idee anhaften, zu wissen, wohin der Reisebericht jener Geisterfahrt, die bereits vor Antritt mit einem gekonnten Totalschaden beendet zu sein schien, führen wird, noch nicht einmal von einer Ahnung berührt, welche Verzweigungen die Worte nehmen, an welche nächtlichen Kurven und unübersichtlichen Kreuzungen weiterer Ideen sie gelangen werden, wobei man auf der Reise durch die geistige Taiga im Vehikel eines prototypischen Satzbaus mit abgefahrenen Profilen ohne Bodenhaftung sitzt und als schwarzweißblinder Testfahrer ständig vor neue Entscheidungen gestellt wird, die Wörter wie Hagelkörner aus dem Gedächtnis auf die gedankliche Überholspur schleudern und Blitzeis im Bewusstsein verursachen, dabei das klebrige Lachen des Konstrukteurs wie Gelatine im Ohr haftet, man jedoch nicht angemessen mittels eines Brems- oder Fallschirms reagieren, sondern nur den Tankinhalt überwachen, die Buchstabenketten auf Touren bringen und das Aufmerksamkeitspedal bis ans Bodenblech der Wahrnehmung durchtreten kann, während sinnverfinsternde Wolken am Horizont auftauchen, sich in einer kaum wahrnehmbaren, unwirklichen Geschwindigkeit nähern und in ihrer Bedrohlichkeit vermitteln, dass Aufrüstungen des Wortwaffenarsenals notwendig sind, um in Nebensatzscharmützeln, die mit massiven Sprachverlusten und kognitiven Kollateralschäden enden können, zu überleben, jedoch die Bedrohung unaufhaltsam voranrückt, als unterläge sie einem planetarischen Gesetz, das aus sich selbst entstand und sich selbst immer wieder zu neuen Fassungen umschreibt, um sämtliche Geschichten, die jemals passiert sein werden, im Gelee einer erstarrten Zeitlandschaft gefrieren zu lassen, weil alles gleichzeitig passiert und Raum und Zeit sich ineinander verschränken, ohne Unterschiede zwischen innen und außen, nah und fern, ich und du und sämtlichen anderen scheinbaren Gegensätzen zuzulassen?

Sonntag, Mai 03, 2009

München - Venedig (XV): Die Essenz des Erlebten



Erinnerungen sind Verbindungen in eine Vergangenheit, die sich wie ein Containerschiff von uns entfernt und kleiner wird, bis sie hinter der Eintönigkeit des Meeres verschwindet. Wir stehen im Hafen, sehen dem Frachter hinterher und warten auf andere Schiffe. In den vielen Häfen auf unserer Reise entdecken wir manchmal Container, die uns bekannt vorkommen.


Braunauge

Ich habe während meiner Wanderung keine Notizen gemacht. Erlebtes kann nicht den Sinnes- und Geisteseindrücken getreu beschrieben werden. Der zentrale Wegbereiter des Naturalismus, Emile Zola, stand an Pariser Straßenecken und hat versucht, jedes Detail seiner Beobachtungen mit naturgetreuer sprachlicher Präzision festzuhalten. Am Ende blieben Worte, die den Leser mit wachsendem Umfang des Geschriebenen vom Kern eines ursprünglichen Gefühls entfernen.

Aber worin liegt die Essenz des Erlebten? Es sind keine vollständigen Eindrücke, die innerhalb einer verblassenden Erinnerung abgerufen werden, der Inhalt unseres Gedächtnisses besteht überwiegend aus fadenscheinigen Bruchstücken. Und unabhängig von jeder Antwort auf die Frage der Darstellung muss ein Festhalten des Rückblicks zur Verfälschung des Erlebten führen.


Kaisermantel

Nach dem frühmorgendlichen Aufbruch von der Pramperet Hütte schlug ich ein hohes Tempo ein, weil ich an diesem Tag den Abstieg aus den Alpen bewältigen und Belluno erreichen wollte. Über die Forcella la Sud dei Van di Città ging es zum Rifugio Pian de Fontana. Ich hatte keinen Helm gegen Steinschlag im Gepäck, also wählte ich die Umgehung der Chiara und wanderte durch eine dichter werdende Vegetation in grüne Täler, bis ich an der Straße nach Belluno stand.





















Die Stille in den Bergen mündete übergangslos im Alptraum eines Verkehrsstroms, dessen Partikel mit größtmöglicher Geschwindigkeit vorbeirauschten. An der Straße gab es keinen Seitenstreifen, so dass nur ein geringer Abstand zu den Fahrzeugen blieb. Jugendliche Motorradfahrer donnerten besonders riskant an mir vorbei, um ihren Sozias zu imponieren, deren üppige Hinterteile mich spöttisch grüßten. Jenseits der Leitplanke begann eine Böschung, dahinter lag der Fluss Torrente Cordevole. Graßler verweist in seiner Reisebeschreibung auf den Linienbus, aber ich wollte jeden Meter bis nach Venedig zu Fuß zurücklegen. Eine Zeitlang versuchte ich, am Fluss entlang zu gehen, was sich aber aufgrund der Beschaffenheit des Flussbetts als noch beschwerlicher herausstellte.





















"ATTENZIONE"


Ich überlegte kurz, ob es sinnvoll sei, die Nacht abzuwarten, weil dann vielleicht weniger Fahrzeuge unterwegs wären. Diesen Plan gab ich auf, als ich einer toten Fledermaus auf der Randmarkierung begegnete. Offensichtlich war das Reisen bei Nacht nicht ungefährlicher.




Es wurde schließlich doch noch Nacht, bis ich in Belluno ankam. Die Etappe war anstrengender und staubiger gewesen, als ich am Morgen erwartet hatte. Ich fand ein ruhiges Zimmer in einer Art katholischem Übernachtungsheim, bevor ich in einem Café den größten Eisbecher auf der Speisenkarte als Entschädigung für meine abgasverseuchten Lungen bestellte.



Belluno
(...)