Montag, September 14, 2009

München - Venedig (XX): Das Ziel ist das Ziel

Als ich am nächsten Tag die Augen aufschlug, erwachte ich inmitten eines bösen Traums, dem ich am Abend zuvor durch die Flucht in den Schlaf entkommen war. Auf einem Campingplatz von irrsinnigen Ausmaßen erinnerte ich mich mit Grauen an das endlose Gehen entlang der Zäune anderer Campingplätze von irrsinnigen Ausmaßen. Der wohlklingende Name "Jesolo" hatte sich als Fluch einer Campinghölle entpuppt. Welche Sünden mussten die vielen Menschen begangen haben, um an einen solchen Urlaubsort verdammt zu werden? Wie bei der Besteigung des Piz Boè im XII. Kapitel meiner Alpenüberquerung vergaß ich aufgrund der Verstörung jede fotografische Dokumentation.

Venedig war nur wenige Kilometer entfernt, hastig entfernte ich mich aus dem Fegefeuer der Sonnenanbeter. Bereits am frühen Morgen stiegen die Temperaturen schnell, und weil eine Schwalbe allein noch keinen Sommer macht, hatten sich zahlreiche Vertreter dieser Vogelart auf Stromleitungen niedergelassen, um den Job zu erledigen.




Der Luxus der Entbehrung hatte ein Ende, am Straßenrand gab es Läden mit einer zivilisationsgerechten Bandbreite von überflüssigen Lebensmitteln. Ich genoss den Komfort eines Cappuccinos in der Morgensonne und versuchte, mir die kommunistische Rockereidechse aus Venedig vorzustellen, die sich auf einem Müllcontainer verewigt hatte.



Am späten Vormittag tauchte es auf, das Meer. Irgendwer hatte es aus dem Himmel gesaugt und einen fabelhaft blauen Wasserteppich vor mir ausgerollt.



Da es ohne neutestamentarische Tricks nicht möglich war, den Weg zu Fuß fortzusetzen, erwarb ich ein Ticket für die Fähre, das einzige Verkehrsmittel seit meinem Aufbruch in München.

Kurz nach dem Ablegen wurde die Fähre von einem Boot überholt, das einen Sarg an Bord hatte. Erwartete mich der Tod in Venedig? Weder Thomas Mann noch die Pest persönlich würden mich jetzt noch von einem Spaziergang am Lido abhalten.



Venedig ist bis in den letzten Winkel die perfekte Reinform des Kitsches. Beinahe fühlte ich mich auf eine sonderbare Weise schuldig, weil ich mich von diesem Kitsch schon von weitem um den Finger wickeln ließ und mich in den folgenden Tagen in der kuscheligen Betriebsamkeit wohlfühlte.



Mit großer Weitsicht muss diese Stadt auf Stelzen bereits vor vielen hundert Jahren für Millionen Touristen entwickelt worden sein. Wüsste man es nicht besser, wollte man sofort eine Oper schreiben und die ganze Stadt mit ihren Kanälen, Souvenirläden, Herrenhäusern und Zuckergussbrücken als Bühne benutzen. Die Touristenhorden würden dabei nicht stören, sondern wären ein unverzichtbarer Bestandteil der Kulisse.



Am achtzehnten Tag nach meinem Aufbruch in München hatte ich das Ziel erreicht. Ich stand auf dem Markusplatz. Und darin bestand das Ziel. Zu keinem Zeitpunkt der Reise war allein der Weg das Ziel. Der Weg war immer nur der Weg.
(Ende.)

Mittwoch, September 02, 2009

München - Venedig (XIX): Der weite Weg zum Strand

Hinter dem Horizont verbargen sich weitere Horizonte, aber mit jedem Schritt blieb der neue Horizont ebenso weit entfernt wie der letzte. Die sichtbaren Entfernungen ließen das Gehen auf dem flachen Land aussichtsloser erscheinen als in den Bergen. Zwar bestand jener Teil von Venetien aus einer fruchtbaren Ebene, wo sich weite Weinfelder mit anderen Agrarflächen abwechselten, aber das grenzenlose Gehen mündete in Monotonie, und dann konnte sich zwischen fruchtbar und furchtbar nur ein Buchstabe nicht entscheiden.



Allein der Anblick des Meeres war die große Erwartung, die mich antrieb. Man hat schon viele Meere gesehen, aber dieser Anblick musste etwas Besonderes sein: Noch nie war der Weg zum Strand so weit.



Ein Kriegerdenkmal an der Straße zeigte einen Soldat mit Gewehr und aufgepflanztem Bajonett. Kriegerdenkmale verklären Schlachtfelder zu Schauplätzen des Heldentums. Als Kind war ich beeindruckt von den gewaltigen Figuren und Tafeln aus Stein oder Metall, die mit unzähligen Namen beschriftet waren. Im Herbst sammelte ich Kastanien, die man immer in der Nähe eines Kriegerdenkmals fand. Damals klangen die Listen auf den Totentafeln altmodisch, heute geben Eltern ihren Söhnen wieder Namen wie Hans, Paul oder Leo. Werden Kriegerdenkmale wieder in Mode kommen? Wird man für die Gefallenen, die in Afghanistan ihr Leben verlieren, auch Kriegerdenkmale errichten, an denen Kinder in dreißig Jahren Kastanien sammeln? Der Begriff des "gefallenen Soldaten" wird in Verbindung mit einer Vorstellung von Ehre gebraucht. Umgekehrt verhält es sich, wenn von einem "gefallenen Mädchen" die Rede ist. Die Sprache selbst ist ein trügerisches Mahnmal.



Wenn sich meine Gedanken auf den Schlachtfeldern der Erinnerung gegenseitig aufrieben, sang ich Lieder wie "Nothing ever happens" von Del Amitri oder "Vampiresa Mujer" von Jonathan Richman. Und wenn ich dann an einem einsamen Haus vorbeikam, kläfften hinter dem Gartenzaun klobürstenähnliche Hunde. Im Gegensatz zu mir schienen sie sich überhaupt nicht blödsinnig vorzukommen.
(...)
--
>> Kriegerdenkmal