Sonntag, Mai 27, 2012

Mein griechisches Randwissen

Gerne hätte ich die Griechenlandreise damit begründet, dass mir das kakophonische Blockupy-Getöse auf den Geist ging und ich mich daher - zu sozialpsychologischen Forschungszwecken - spontan aus Frankfurt ins Epizentrum der europäischen Schuldenkrise begeben habe. Das wäre nur leider gelogen, denn ich hatte den Flug schon einige Wochen zuvor gebucht. Die zeitliche Überschneidung mit den Kaffeefahrten jugendlicher Empörungswilliger war ein erfreulicher Zufall, und von den wissenschaftlichen Methoden der Sozialpsychologie habe ich sowieso keinen Dunst.


1995 war ich auf dem Weg nach Indien durch Griechenland gefahren, und bereits 1987 hatte es mich auf einer Reise per Autostopp* ums Mittelmeer für einige Tage auf die Insel Thassos verschlagen. Griechenland rief in mir Gedanken an Fleischberge (Souvlaki, Gyros, Keftedes etc.) und teutonischen Schlagerterror (Jürgens, Mouskouri, Cordalis etc.) hervor, vor allem aber Erinnerungen an staubige Autobahnauffahrten, Rotwein, Backgammon und einen Tintenfisch, den uns fröhliche Fischer am Strand zuwarfen.

Griechisches Randwissen, das ich während der letzten sieben Tage erworben habe:

1. Die Innenstadt von Thessaloniki zeigt keine sichtbaren Spuren der Krise, wochenendliche Partystimmung in den Bars entlang der Strandpromenade. (Auch an Werktagen.)

2. Angeblich stellen sich streunende Hunde in der Innenstadt, wenn sie eine Straße gefahrlos überqueren wollen, neben einen Fußgänger und beobachten, wie sich der Mensch verhält. Sobald man losgeht, folgen sie auf die andere Seite. Dann trennen sich die Wege wieder. (Ich hätte dieses Verhalten gerne überprüft, aber kein Straßenköter stellte sich neben mich. Vermutlich trauen die Hunde Ausländern nicht. Meine Herkunft mag den sozialpsychologischen Versuchsaufbau zusätzlich beeinträchtigt haben.)

3. Auf die Frage nach dem populärsten Getränk der Griechen erwartete ich die Antwort "Ouzo", "Metaxa" oder wenigstens "Retsina". Anstatt dessen bekomme ich zu hören: "Heineken".

4. Türkischer Kaffee heißt Griechischer Kaffee.

5. Wenn ein Priester auftaucht, den man aufgrund seiner orthodoxen Kleidung und Haartracht unschwer erkennen kann, ruft ein Jugendlicher: "Kratz dir die Eier!" Diesem Aufruf kommen männliche Begleiter dann mit der entsprechenden obszönen Geste nach.

6. Manche Griechen heißen tatsächlich Ilias, Herakles oder Odysseas.

7. Man kann sich um 1 Uhr nachts zum essen verabreden, ohne für geistesgestört erklärt zu werden.

8. Athen ist gespickt mit schwerbewaffneten Polizeieinheiten. An vielen Ecken stehen uniformierte Burschen, die kaum ihre Pubertät erfolgreich abgeschlossen haben und sich an halbautomatischen Gewehren festhalten. Diesen Anblick kannte ich nur aus Ländern im Bürgerkriegszustand.

9. In einer Tierhandlung in Thessaloniki kann man weiße Igel und einen Kaiman kaufen. In Parks sollte man nicht versehentlich auf die Schildkröten treten.

10. Geraucht wird viel und überall. (Überall. Auch in Bäckereien.)

11. "Du bist in Griechenland angekommen, wenn du in Deutschland das Toilettenpapier nicht mehr in die Schüssel wirfst." (B. Der Grieche)

12. Verglichen mit den ohrenbetäubenden Lautsprechern im Flughafen von Thessaloniki ist die PA von Motörhead ein Scheißdreck.

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*Autostopp: vollkommen aus der Mode gekommener Begriff, ebenso wie die Tätigkeit, die damit bezeichnet wurde. Man sagte damals auch "trampen" oder "per Anhalter reisen".

9 Comments:

Blogger mkh said...

Nicht nur ich, auch Ilias, Herakles oder Odysseus hätten ihre Freude an deinem Text.

Kali nichta!

27.5.12  
Blogger MudShark said...

griechischer wein! was mich bei meinem aufenthalt auf hellas besonders beeindruckt hat, war der wachwechsel vor dem parlament in athen. wer sich diese choreographie ausgedacht hat war entweder vollkommen geisteskrank oder er/sie hatte einen abseitigen sinn für humor.

2.6.12  
Anonymous Frau H. said...

Ach...Autostopp... Schönes Wort! Und irgendwie sind ja schon alle unbewusst auf dem "Rettungstrip" gerade, wie ich den Eindruck habe... Noch nie waren so viele Menschen um mich herum in Griechenland, wie in diesem und letztem Jahr.. Ansonsten: Mythos! (Heiniken) ;) J(Y)amas!? (Wie schreibst sich das?)

4.6.12  
Anonymous burnster said...

Das mit dem Nachts-zum-Essen-verabreden lässt mich fast weinen vor Fernweh und das trotz und wahrscheinlich weil ich selbst grade aus einem Essensland komme.

5.6.12  
Anonymous nina said...

per anhalter reisen ist schön. ich habe vor kurzem den hitchbase-link in deinem blog entdeckt und durchforste gerade verzückt die datenbank.

23.6.12  
Anonymous sonali said...

ich wollte neulich weg trampen. einfach weg. alle fanden das verrückt. ich frage mich, warum die menschen heute so viel mehr angst zu haben scheinen, als früher. vielleicht ist es eine wohnstandserscheinung. oder ich bilde mir das ein.

ansonsten - veröffentlichen Sie doch mal ein buch mit reisetexten. es gibt wenig hier, was sich beim lesen so anfühlt, als wäre man tatsächlich los gefahren. Sie schaffen das. immer wieder.

1.7.12  
Anonymous sonali said...

wohnstand - auch nicht schlecht. wohlstand natürlich.

20.7.12  
Blogger mq said...

/mkh: Klar. Kali ist in einer anderen Mythologie zuhause.

/MudShark: Ich tippe auf synthetische Drogen.

/Frau H.: Der Übersetzungsdienst prostet: εις υγείαν σας. Ob die Umschrift Jámas der Norm ISO 843, DIN 31634 entspricht, möge ein Mythos bleiben.

/burnster: In einer Stadt, in der es nicht unüblich ist, bis zum späten Nachmittag ein Frühstück zu bestellen, muss es doch möglich sein, sich nachts zum Essen verabreden. In dieser Hinsicht ist Berlin jedenfalls mediterraner als Frankfurt.

/nina: Ich habe mich und anschließend die Suchmaschine gefragt, ob es überhaupt noch Tramper gibt und >> diese Antwort erhalten.

/sonali: Ihre Wortschöpfung Wohnstandserscheinung passt bestens in den Kontext der versicherten Beweglichkeit und der Angst vor Unbekanntem (oder Ineffizienz).

21.7.12  
Blogger mkh said...

Und nicht nur in EINER!

23.7.12  

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